Die aktuelle Krise hat sehr viele Unternehmen von heute auf morgen dazu gezwungen, bestehende Arbeitsweisen radikal zu ändern. Die Skepsis gegenüber Homeoffice in vielen Branchen war auf einmal kein Hinderungsgrund mehr. Für Unternehmen gab es plötzlich keine anderen Möglichkeiten, als ihre Mitarbeiter im Homeoffice weiter zu beschäftigen. Jetzt kommt es darauf an, digitale Prozesse auch nach der Krise weiter zu leben.
Die Veränderung von Prozessen, eingetretene Spuren und Pfade zu verlassen und neue zu finden, zu gestalten, ist immer mit Aufwand verbunden. Denn es gilt, die Veränderung auf mehreren Ebenen zu vollziehen. Die technische Ebene lässt sich in den meisten Fällen sehr einfach ändern. Das passende Produkt zu finden, was mein aktuelles Problem löst, ist schnell erledigt. Bedeutet das zum Beispiel, dass wir Microsoft Teams, Zoom oder GotoMeeting nach der Krise nicht mehr benötigen? Weil wir dann alle wieder im Büro sind? Oder begreifen wir den Wechsel der Technik als Chance, die Ebene bei den Mitarbeitern, Kollegen, etc. zu erreichen?
Viele Projekte scheitern daran, dass Mitarbeiter in die Projekte nicht eingebunden waren oder wurden. Das Projektbeteiligte nicht von den Vorteilen überzeugt waren und daher nicht begeistert mitgewirkt haben, nicht Feuer und Flamme waren. Heute? Der Verlust des geliebten Büros und die Unbequemlichkeit, in einem Homeoffice zu arbeiten, wird erstaunlich wenig diskutiert. Weil es alternativlos ist. Warum wird dann nicht bei Projekten im Unternehmen mit einem ähnlichen Pragmatismus gearbeitet? Gemeinsam am Erfolg des Projektes gearbeitet?
Die Digitalisierung von Prozessen ist alternativlos
Nachdem nun Kurzarbeitergeld und/oder Liquiditätshilfen beantragt wurden, ist es Zeit, über die eigenen Prozesse im Unternehmen nachzudenken. Ein Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sagte mir dazu letzte Woche: „Ich muss mit meinem Mandanten zusammen die Prozesse aufschreiben. Erst wenn das schriftlich festgehalten ist, sehen wir, wo die Probleme und Chancen in den Prozessen sind. Denn das schreiben verlangsamt und vertieft den Denkprozess.“ Weiter führt er aus: „Mit der Software habe ich die Möglichkeit, die Prozesse zu beschreiben und parallel zu visualisieren. Veränderungen in der Visualisierung oder der Beschreibung wirkt sich auf das jeweils andere aus.“
Beschäftigen wir Unternehmer uns jetzt nicht mit den Prozessen in unseren Unternehmen, werden wir den Schwung aus der Ad-hoc-Digitalisierung durch die aktuelle Krise nicht mitnehmen. Wir werden wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ein Unternehmer sagte mir zu Beginn der aktuellen Krise, nachdem sein Unternehmen geschlossen wurde, Folgendes: „Vor der Krise hatten wir keine Chance, im laufenden Betrieb Prozesse zu ändern. Wir werden uns jetzt mit den Prozessen intensiv beschäftigen und unser Unternehmen nach der Krise in einem anderen Modus, mit geänderten Prozessen, wieder hochfahren. Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Start eines Digitalisierungsprojekts
Mit einem Partner haben wir am Freitag diskutiert, wie der Start eines Digitalisierungsprojektes verläuft. Im Verlauf des Gespräches stellten sich zwei Ansichten heraus. Den ersten Ansatz nenne ich „Wasserfallmethode“. Es wird zum Beispiel erkannt, dass noch zu viel Papier durch das Unternehmen bewegt wird, dadurch die Entscheidungszeiten zu lang sind, etc. Also liegt es auf der Hand, dass ein Dokumenten Management System eingeführt werden muss. Mittels Google wird nach Anbietern geschaut, die im Idealfall dann noch eine Schnittstelle zum eigenen ERP-System haben. Dann werden diese angeschrieben, Präsentationen finden statt, es überzeugt durch Funktionalität und Nasenfaktor und nach kaufmännischer Einigung startet das Projekt. Die Prozesse werden dann im besten Fall mit den Projektteilnehmern erarbeitet, die Software eingeführt und dann erst der Prozess dokumentiert.
Persönlich bin ich von einem anderen Vorgehen überzeugt. Im ersten Schritt bitte ich die Geschäftsführung oder die Verantwortlichen, das aktuelle Problem, die Situation und warum das Problem besteht, zu beschreiben bzw. welche Folgeprobleme in dieser Situation des aktuellen Prozesses für das gesamte Unternehmen entstehen. Die gesammelten Informationen werden in diesem Projektschritt bereits in der IST-Dokumentation aufgenommen und festgehalten.
Im nächsten Schritt spreche ich mit den Prozessbeteiligten und lasse mir die heutige Arbeitsweise zeigen. Ganz wichtig: ohne Kommentierung, sondern ich „lerne“ nur. Die IST-Dokumentation wird ergänzt und ich beginne bereits an den jeweiligen Prozessschritten Handlungsempfehlungen festzuhalten. Meine Ideen, wie das gelöst werden könnte. Dann bitte ich die Prozessbeteiligten, sich mit mir gedanklich auf eine grüne Wiese zu begeben und mir nach dem Motto „Wünsch dir was“ zu erzählen, wie diese den Prozess am liebsten gestalten würden und lasse mir auch begründen, warum der Prozess so oder so sein sollte. Auch diese Informationen werden in der IST-Dokumentation schriftlich festgehalten und mit meinen Handlungsempfehlungen abgeglichen.
Im nächsten Schritt haben wir die Wunschprozesse mit der Geschäftsführung und/oder den Verantwortlichen besprochen, die im Übrigen nicht bei den Gesprächen mit den Prozessbeteiligten dabei waren. Sehr schnell wurde zwischen Führungsverantwortlichen und Prozessbeteiligten ein Konsens gefunden, wie die Prozesse künftig aussehen sollen.
Aus der IST-Dokumentation wurde die SOLL-Dokumentation!
Nun erst geht es an die Auswahl und Suche nach einem Anbieter, der die SOLL-Dokumentation als Grundlage für sein Angebot und die dann folgende Präsentation erhält. Die gesamte Projektkoordination basiert auf der SOLL-Dokumentation, Änderungen an den Prozessen werden im Team mit allen Projektbeteiligten besprochen und dann gemeinsam verabschiedet.
Der große Nebeneffekt, der eigentlich das Beste daran ist, ist der Umstand, dass alle bestmöglich in das Projekt mit integriert sind. Die Geschäftsführung oder Verantwortlichen haben mitentschieden, die Prozessbeteiligten haben ebenfalls mitentschieden – und jeder trägt das Projekt mit, als wäre es seine Idee, sein Projekt.
Fazit: Meine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass die IST-Dokumentation, die Ableitung daraus zur SOLL-Dokumentation und die anschließende Umsetzung immer den größten Projekterfolg hatten und bis dato kein Projekt abgebrochen werden musste. Um in ein paar Wochen nicht durch Aktionismus geprägt das Unternehmen wieder anzufahren, ist JETZT die Zeit, die eigenen IST-Prozesse zu dokumentieren, zu überdenken und das SOLL daraus abzuleiten.
Paul ist Geschäftsführer der hsp und derjenige, der die Klappe hält. Seine Top-Themen: Medienbrüche mittels Software abschaffen. Verfahrensdokumentation, IKS, TCMS und weitere Compliance Themen. Sein aktuelles Projekt: Verrechnungspreisdokumentationen ohne Medienbrüche erstellen. Mittels Taxonomie.